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Kein Platz für ungleich Zwei? Über Familien- und Geschlechterrollen.

Geschlechterrollen bestimmen Familienrollen. Familienrollen bestimmen Geschlechterrollen. Wie unsere Gesellschaft an dem traditionellen Familienbild festhält.


Unsere Gesellschaft ist geprägt von Ritualen und Gewohnheiten, die sich über Generationen hinweg entwickelt haben. Doch in einer Welt, die sich ständig verändert und neue Formen von Beziehungen und Familien hervorbringt, stellt sich die Frage, ob die althergebrachten Vorstellungen noch immer unseren Realitäten entsprechen. Diese Frage stellt sich auch in Bezug auf "die Familie", und auf Rollen, die wir unterschiedlichen Personen in diesem System zuweisen. Das geht alle was an, denn die Familie ist als kleinste soziale Einheit Dreh- und Angelpunkt für die Verhandlung von Geschlechterrollen und soziale Erwartungen. Dies wiederum betrifft nicht nur die Gestaltung des Privatlebens sondern hat auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Familien als Dreh- und Angelpunkt für die Verhandlung von Geschlechterrollen


Betrachten wir einmal einige alltägliche Situationen: In der Schule wird ein Zettel für eine

Klassenfahrt nach Berlin verteilt, bei der beide Elternteile unterschreiben sollen. Bei der

Abiturentlassungsfeier ist die Teilnehmeranzahl aufgrund von Corona auf den eigenen Haushalt

sowie zwei Personen begrenzt – eine Maßnahme, die zwar verständlich ist, aber dennoch das

traditionelle Familienbild hervorhebt. Und dann gibt es da die Situation in der Grundschule, in der die Kinder gebeten werden, ihren Stammbaum auszufüllen, und es für einige Kinder keinen passenden Vordruck gibt. Diese Vorgehensweisen werfen wichtige Fragen auf: Repräsentieren sie, und die darunter liegenden Vorstellungen, wirklich die Vielfalt unserer Gesellschaft und passen sie zur Realität der modernen Familie? Ist es nicht an der Zeit, unsere Vorstellungen von Familie zu überdenken und den Wandel anzuerkennen, der längst in vollem Gange ist?


Familien(formen) in Deutschland sind gar nicht so traditionell


In Deutschland entspricht jede vierte Familie nicht der traditionellen, heteronormativen Vorstellung

von Vater, Mutter und Kind (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2017, S.

13). Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Statistik auch nur eine untere Grenze darstellt, da

unsere rechtlichen Definitionen von Elternschaft auf die Eintragung von zwei Elternteilen beschränkt

sind und somit andere Familienkonstellationen mit mehr als zwei Elternteilen nicht erfasst werden. Die politische Situation verfälscht also die Statistik, da sich auch nicht-normative Familien in das bestehende Rahmenwerk eingliedern müssen.


Trotz dieses Bias zeigen die vorhandenen Zahlen einen klaren Trend nach oben: Im Jahr 1996 lag der Anteil von Familien, die von der traditionellen Norm abwichen, bei 19 Prozent (Sonnabend, 2007), während er im Jahr 2020 auf 30 Prozent gestiegen ist (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2021, S. 41). Außerdem sind bei jeder zweiten Scheidung minderjährige Kinder betroffen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2021, S. 99), die somit auch nicht mehr in das klassische Familienbild fallen. Diese Zahlen spiegen die wachsende Vielfalt von Familienstrukturen in unserer Gesellschaft wider und verdeutlicht die Notwendigkeit, unsere Vorstellungen von Familie zu überdenken und anzupassen.


Konstellationen jenseits Vater-Mutter-Kind sind nicht neu


Auch ist es von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass verschiedene Familienformen abseits der

traditionellen Vater-Mutter-Kind-Konstellation keineswegs als neumodische Entwicklungen

anzusehen sind, wie so in manchen Medien kommuniziert. Denn tatsächlich zeigen sozialhistorische Untersuchungen, dass viele dieser Familienformen schon lange existieren und Teil unserer gesellschaftlichen Geschichte sind (Rosenbaum, 2014, S.19-37), die nur selten Repräsentation findet. So war beispielsweise die Vielehe in vorchristlichen Sippenstrukturen üblich, um die Existenz der Sippe zu gewährleisten (Kriwet, 2022).


Das Festhalten der Gesellschaft an dem traditionellen Familienbild ist nicht nur veraltet, sondern es

kann auch als Vertreter für weitere gesellschaftliche Kritikpunkte betrachtet werden. Denn ein

solches Bild geht oft Hand in Hand mit Vorstellungen, die Geschlechterungleichheit und

Geschlechterstereotypen manifestieren. Kinderbücher zeigen dies besonders gut auf: Beispielsweise kommt Janschitz, die sich mit dem Geschlechterwissen in Kinderbüchern befasst hat,

die von 1963 bis 2014 mit dem österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurden, zu dem Ergebnis, dass die Charaktere in diesen Büchern ausschließlich in männlich und weiblich kategorisiert werden und dass das traditionelle Familienbild stets als Grundlage aller Kinderbücher dient (Janschitz, 2015, S. 10-12).


Vorstellungen, die Geschlechterungleichheit und Geschlechterstereotypen manifestieren


Da Kinder bereits ab einem Alter von etwa vier Jahren Unterscheidungen treffen, Wertungen

vornehmen und hierarchische Positionen zuordnen (Eggers, 2012), können daher frühkindliche

Prägungen auf Grundlage dieser überholten Narrative entstehen. Dies ist nicht nur unzeitgemäß,

sondern fördert auch durch die fehlende Darstellung verschiedener Geschlechter und anderer

Familienformen sowie die enge Beschränkung auf das traditionelle Familienbild wird eine Form von

Diskriminierung. Denn dadurch werden Gefühle der Andersartigkeit, der Nichtzugehörigkeit und der Ausgrenzung vermittelt, indem die Existenzen alternativer Lebensformen nicht aufgezeigt und somit indirekt negiert werden.


In Bezug auf Kinderbücher, führt dies dazu, dass Kinder befürchten, dass ihre eigenen familiären

Verhältnisse nicht akzeptiert werden, und dass sie sich gezwungen fühlen, ihre Situation ständig zu

erklären. Aber auch über Bücher hinaus, kann es problematisch werden: Wenn es beispielsweise

keinen passenden Vordruck für die eigene Familienstruktur gibt oder wenn man im Freizeitpark keine

passende Familienkarte kaufen kann, sind dies zwar auf eine einzelne Situation gesehen kleine, fast vernachlässigbare Dinge aber führen auf Dauer ähnlich wie Mikroaggressionen zu einem tief

verwurzelten Gefühl der Andersartigkeit.


Geschlechtsbezogene Annahmen überdenken, Geschichten hinterfragen


Diese Narrative sind darüber hinaus nicht nur für Kinder relevant. Das menschliche Miteinander ist

stets von Erwartungen geprägt, und verinnerlichte Normen führen zu Voreingenommenheiten. Zum

Beispiel manifestieren sich diese Erwartungen am Arbeitsplatz, wo oft angenommen wird, dass das

Gegenüber heterosexuell ist oder dass Frauen einen Kinderwunsch hegen. Diese Vorstellungen sind

eng mit den Geschichten verbunden, die wir über Familien erzählen. Sie beeinflussen unsere sozialen Interaktionen, politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Strukturen. Die Frage, ob unsere traditionellen Vorstellungen von Familie mit der Realität Schritt halten können, ist somit ein Teil

eines größeren Diskurses über Gleichberechtigung, Vielfalt und gesellschaftlichen Wandel. Es ist an

der Zeit, diese Diskussion zu führen und den Bogen vom individuellen Erleben bis zu den

weitreichenden Auswirkungen auf die Gesellschaft zu schließen.



Eigene Voreingenommenheiten zu erkennen und zu durchbrechen ist harte Arbeit. In Bezug auf

Familienkonstellationen kann jede*r von uns kann einen Beitrag leisten, um Veränderungen

herbeizuführen. Es erfordert die Auseinandersetzung mit den Normen, die man selbst verinnerlicht

hat und einen pro-aktiven Einsatz für Diversität und Vielfalt, sei es am Arbeitsplatz, bei der Erziehung der Kinder oder in der Schule.


Gesetzliche Gleichstellung ist wichtig, doch wir alle können etwas tun


Wichtige Konzepte in diesem Kontext sind "Aufgeschlossenheit" und "Entschlossenheit". Aufgeschlossenheit bedeutet, die Fähigkeit, bestehende Vorstellungen zu hinterfragen und neue

Denkansätze zu akzeptieren, während Entschlossenheit das aktive Engagement in der Auseinandersetzung mit diesen Ideen beinhaltet. Nur durch die Kombination von Aufgeschlossenheit und Entschlossenheit können wir unsere, oft früh verinnerlichten, Vorstellungen und Strukturen aufbrechen. Diskussionsrunden und eine ausgewogene Darstellung in den Medien bieten sich als Möglichkeiten an, um diesen Dialog zu fördern. Denn nur durch offene Gespräche können Veränderungen angestoßen werden. Gleichzeitig sollten wir die Bedeutung der gesetzlichen Gleichstellung nicht unterschätzen, da sie einen erheblichen Einfluss auf die Anerkennung und Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft für verschiedener Familienstrukturen hat.


Ein Beispiel hierfür ist die Forderung nach rechtlicher Anerkennung von Familien mit mehr als zwei Personen als Eltern oder auch die Forderung nach mehr Relevanz von Alleinerziehenden in der Familienpolitik, da bei diesen ein auffällig hohes Armutsrisiko besteht, wo vier von zehn 2021 als armutsgefährdet galten (Bundeszentrale für politische Bildung, 2023).


Es ist von grundlegender Bedeutung zu erkennen, dass gesellschaftliche Veränderungen Zeit und

Anstrengungen erfordern, aber jeder Schritt in Richtung einer inklusiveren und vielfältigeren

Gesellschaft ein Schritt in die richtige Richtung ist. Abschließend ist es wichtig zu betonen, dass niemandem etwas weggenommen wird, wenn vielfältigere Familienbilder repräsentiert werden. Die traditionelle Familie darf und soll weiterhin bestehen, sie soll lediglich um andere Formen ergänzt werden, die schon längst Realität sind.

 

Dieser Text ist im Seminar „Diversity und Sozialkompetenz“ entstanden, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE leitet. Die Autorin Klara Prigge ist Studentin des Studiengangs IT-Systems Engineering am Hasso-Plattner-Institut.



Quellen

- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017). Familienreport 2017 Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin

- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2021). Familie heute. Daten. Fakten. Trends Familienreport 2020., Berlin

- Rosenbaum, H. (2014).Familienformen im historischen Wandel, in: Steinbach, A., Hennig, M., Arránz Becker, O. (2014). Familie im Fokus der Wissenschaft, Wiesbaden

- Janschitz, G. (2015). Geschlechterwissen in Kinderliteratur – Zur Geschlechterdarstellung in vom Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichneten Kinderbüchern von 1963 – 2014


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