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Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Gleichberechtigste auf der ganzen Welt? Gedanken zum Gender Equality Paradoxon.

Seit 2001 gibt es die Initiative „Girls Day“, bei der Schülerinnen dazu eingeladen werden, für einen Tag in meist technische Berufsfelder reinschnuppern. Sucht mensch nach Women-In-Tech-Initiativen, so gehen die Suchergebnisse nicht aus, doch davon ist denkbar wenig in der Berufswelt angekommen. Wie Figure 1 zeigt, liegt der Anteil an Frauen in der IT-Branche bei weniger als 17%. Wie lang sind wir als Gesellschaft bereit, solche Programme zu unterstützen, obwohl sich kaum etwas am quantitativen Anteil geändert hat, bevor wir diese Bemühungen als nicht sinnhaft abstempeln? Oder gar den Schluss ziehen, dass es einfach genetisch bedingt weniger Interesse von Frauen an technischen Themen gibt?


Figure 1 Frauen in der IT-Branche





















Was ist mit dem Gender Equality Paradoxon gemeint?


Nun wird jedes Jahr veröffentlicht, wie groß der Anteil der Frauen in STEM Studiengängen in Deutschland ist und wie jedes Jahr ist er zu gering - 2023 waren es 32%[1] (Zandt und Brandt 2024), in der Informatik unter 20% (Statistisches Bundesamt 2023) . Doch damit ist Deutschland nicht allein - auch in Finnland, Norwegen oder Schweden lassen sich ähnliche Werte beobachten (vgl. Figure 1) und das, obwohl all diese Länder außerdem einen hohen GGGI-Wert aufweisen. Dies ist die Abkürzung für den Globalen Gender Gap Index, welcher in einem jährlichen Bericht des Weltwirtschaftsforums zur Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern herausgegeben wird. Er ermittelt auf nationaler Ebene in den vier Kategorien Wirtschaft/Beruf, Zugang zu Bildung, Gesundheit und politischer Repräsentation das Ausmaß der Benachteiligung auf Grund des weiblichen Geschlechts.



Figure 2: Gender Equality Paradoxon (Hausmann 2023)

Dazu wird für 14 Indikatoren das Verhältnis zwischen dem Wert für Frauen bzw. Mädchen und dem Wert für Männer bzw. Jungen ermittelt. Alle bisher genannten Länder lagen unter den Top-10 aus 146 untersuchten Ländern weltweit (Hausmann 2023). Und dennoch können wir Figure 1 entnehmen, dass Länder, die wesentlich schlechter auf dem GGGI abschneiden wie Benin, Algerien oder Tunesien bei einem Anteil an weiblichen Studierenden in STEM-Studiengängen von über 50% liegen. Darüber hinaus bleibt dieser Anteil auch verengt für ICT Studiengänge[2] auf diesem Niveau (UNESCO 2019). Dieses Phänomen wird basierend auf der Arbeit von Stoet und Geary auch als „Gender Equality Paradox“ bezeichnet (Stoet und Geary 2018).


Was, wenn mehr Egalitarismus gar nicht zu nicht zu mehr Frauen in Tech führt?


Eine vermeintliche Lösung des Paradoxons wird unter Umständen in der folgenden Argumentation gesehen: Dass manche Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht mit zunehmendem Egalitarismus zuzunehmen scheinen, sei auf jene ursächlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen, die nicht sozial, kulturell oder gesellschaftlich geprägt sind, sondern naturgegeben. Die Ausprägung solcher Veranlagungen sei in egalitäreren Ländern besser möglich, da der gesellschaftliche Einfluss, der zwischen den Geschlechtern differenziert, abnimmt, sodass die verbleibenden biologische oder genetische Unterschiede sowie deren Auswirkungen stärker zu Tage treten. Gerne wird im nächsten Schritt außerdem daraus abgeleitet, dass Bemühungen, den weiblichen STEM-Anteil zu erhöhen, nicht verstärkt werden sollten, da Frauen schließlich auch nicht darein gezwungen werden sollten.


Geschlechterunterschiede werden nicht als sozial, kulturell oder gesellschaftlich geprägt eingeordnet, sondern als naturgegeben


Der Blick in den Spiegel: Vermeintlich biologische Annahmen anstatt Selbstkritik


An dieser Stelle möchte ich das einmal umformulieren: Wir - westeuropäische Gesellschaften - nennen dieses statistische Phänomen, wie aus Figure 1entnehmbar, eher ein Paradox und leiten daraus biologische Annahmen über Frauen ab, die kaum neurowissenschaftliche Evidenz haben[3], als anzuerkennen, dass andere Länder schlichtweg einen besseren Job in der Förderung von Frauen in MINT-Studiengängen machen.


Um es zuzuspitzen: Als Länder, die von sich behaupten, dass Feminismus ein wichtiger Grundwert ist (siehe feministische Außenpolitik), sprechen wir diesen zahlreichen Frauen in Ländern im zumeist persischen, osmanischen oder arabischen Kulturraum eher ab, dass sie tatsächlich aus freiwilligem Interesse diese Fächer studieren, als in den Spiegel zu schauen und bei uns selbst nach den Ursachen für den niedrigen Anteil zu suchen.

Figure 3 Länderprofil für Tunesiens:  Abschneiden auf dem GGGI in den vier Subkategorien (Hausmann 2023)

Dabei lohnt sich ein näheres Hinsehen. So liegt Tunesien nur auf Platz 128 auf dem GGGI, aber wie Figure 2 zeigt, erzielt das Land einen hohen Wert im Bereich Bildung (Figure 3). Diese Form des Profils lässt sich auf die meisten Länder, welche „überraschend“ gut performen, übertragen. Da nach dem Geschlechterverhältnis in Studiengängen gefragt wird, also ein Indikator, der statistisch nur im Bildungsbereich verankert ist, erscheinen die Werte in dieser Betrachtung weniger paradox. Die meisten Länder weisen in diesem Bereich einen sehr hohen Wert bzw. ein hohes Maß an Gleichstellung auf. Dies passt jedoch nicht zum medialen Bild, welches von muslimischen Regionen gezeichnet wird.


Gleichstellung ist komplex und umfasst unterschiedliche Faktoren


In zahlreichen dieser Länder wie z.B. der Türkei wird ausgehend vom im zentralen Abitur-Äquivalent erreichten Ergebnis die Zulassung zu Studiengängen vergeben. Dabei sind die drei exklusivsten Studiengänge, welche daher auch besonderes soziales Ansehen genießen, Medizin, Jura und Ingenieurwesen. Um dafür überhaupt in Frage zu kommen, bedarf es sehr guter Noten, welche Mädchen im Schnitt häufiger als Jungs aufweisen, wenn mensch den Ergebnissen der PISA Studien folgt (Stoet und Geary 2018). Darüber hinaus wurden in einer Studie von Breda, Kinder gefragt, inwiefern sie den beiden Sätzen „Doing well in math is completely up to me“ und „My parents believe that math is important for my career“ zustimmen.


Die Ergebnisse passen nicht zum medialen Bild, welches von muslimischen Regionen gezeichnet wird.


Dabei lohnt sich ein näheres Hinsehen. So liegt Tunesien nur auf Platz 128 auf dem GGGI, aber wie Figure 2 zeigt, erzielt das Land einen hohen Wert im Bereich Bildung. Diese Form des Profils lässt sich auf die meisten Länder, welche „überraschend“ gut performen, übertragen. Da nach dem Geschlechterverhältnis in Studiengängen gefragt wird, also ein Indikator, der statistisch nur im Bildungsbereich verankert ist, erscheinen die Werte in dieser Betrachtung weniger paradox. Die meisten Länder weisen in diesem Bereich einen sehr hohen Wert bzw. ein hohes Maß an Gleichstellung auf.


Dies passt jedoch nicht zum medialen Bild, welches von muslimischen Regionen gezeichnet wird. In zahlreichen dieser Länder wie z.B. der Türkei wird ausgehend vom im zentralen Abitur-Äquivalent erreichten Ergebnis die Zulassung zu Studiengängen vergeben. Dabei sind die drei exklusivsten Studiengänge, welche daher auch besonderes soziales Ansehen genießen, Medizin, Jura und Ingenieurwesen. Um dafür überhaupt in Frage zu kommen, bedarf es sehr guter Noten, welche Mädchen im Schnitt häufiger als Jungs aufweisen, wenn mensch den Ergebnissen der PISA Studien folgt (Stoet und Geary 2018).


Gedanken zum Gender Equality Paradoxon müssen Rollenbilder einbeziehen,


Darüber hinaus wurden in einer Studie von Breda, Kinder gefragt, inwiefern sie den beiden Sätzen „Doing well in math is completely up to me“ und „My parents believe that math is important for my career“ zustimmen. So konnten die Forschenden zeigen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen den Zustimmungswerten in Ländern mit hohem GGGI größer als Ländern mit geringerem GGGI ist. Sie machten schlussfolgernd auf das Phänomen aufmerksam, dass Länder, die formal egalitärer sind, in bestimmten Bereichen unter Umständen wieder verstärkt differenzierende Rollenbilder vermitteln. Daher gaben sie dem Paper auch den richtungsweisenden Namen „Gender stereotypes can explain the gender-equality paradox“. (Breda u. a. 2020).


Manchmal schneiden andere einfach besser als mensch selbst ab - dafür kann es viele Ursachen geben. Doch wenn mensch schlechter abschneidet, dann sollte die Lehre daraus nicht sein, die Erfolge der anderen als paradox zu relativieren und sich selbst von jeder Verantwortung für die eigenen Ergebnisse freizusprechen. Ebenso sollten wir uns auch in der Diskussion um das Gender Equality Paradoxon nicht auf einen eurozentristischen Standpunkt zurückziehen und uns auf rechtliche Gleichstellung berufen. Stattdessen gilt es die Ursachen für den großen Frauenanteil in einigen Ländern genau zu untersuchen und daraus eigene Handlungsaxiome abzuleiten.


[1] Dieser Anteil wird durch den großen Anteil weiblicher Studierender in z.B. Biologie und Pharmazie erhöht, verdeckt damit jedoch den kleiner werdenden Anteil, je technischer der Studiengang wird.

[2] Informations- und Kommunikationstechnologien

[3] Mensch kann an dieser Stelle guten Gewissens annehmen, dass die Biologie der letzten 150 Jahre sich wirklich bemüht hat, diese Unterschiede zu finden.


 

Dieser Text und die Gedanken zum Gender Equality Paradoxon sind im Seminar „Diversity und Sozialkompetenz“ entstanden, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE leitet. Claire Sophie Patzig studiert im Studiengang IT-Systems Engineering am Hasso-Plattner-Institut.



 

Quellen


Breda, Thomas, Elyes Jouini, Clotilde Napp, und Georgia Thebault. 2020. „Gender stereotypes can explain the gender-equality paradox“. SSRN Electronic Journal. doi:10.2139/ssrn.3743128.

Hausmann, Ricardo. 2023. „Gender Gap Report 2023“. World Economic Forum. https://www.weforum.org/publications/global-gender-gap-report-2023/


Statistisches Bundesamt, Veröffentlicht vonStatista Research. 2023. „Studierende der Informatik nach Geschlecht bis 2022/2023“. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/732331/umfrage/studierende-im-fach-informatik-in-deutschland-nach-geschlecht/.


Stoet, Gijsbert, und David C. Geary. 2018. „The gender-equality paradox in science, Technology, engineering, and Mathematics Education“. Psychological Science 29(4): 581–93. doi:10.1177/0956797617741719.


UNESCO. 2019. „I’d blush if I could: Closing gender divides in digital skills through education“. I’d blush if I could: Closing gender divides in digital skills through education. doi:10.54675/rapc9356.


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