Vielfalt ist kein Zufall: Warum Diversity Recruiting mehr als ein Haltungsthema ist
- Rea Eldem
- 26. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Stell dir vor, du sitzt in einem Vorstellungsgespräch. Dir gegenüber: eine hochqualifizierte Frau mit beeindruckendem Lebenslauf. Und doch sagt dein Bauchgefühl: Irgendwas passt nicht. Du kannst dir nicht so recht vorstellen, wie sie sich in das sehr männliche Team einfügen wird. Ein Gedanke schleicht sich ein: Was, wenn sie zwar die am besten qualifizierte Person ist, aber trotzdem nicht im Team harmoniert?
Dieser Moment ist kein Einzelfall. Und er steht sinnbildlich für eine Realität, über die in vielen Unternehmen zu wenig gesprochen wird: Vielfalt ist gewollt – solange sie sich reibungslos einfügt. Doch genau da liegt das Problem. Wenn wir nur die Frauen, BIPoC, queeren Menschen oder Menschen mit Behinderung einstellen, die exakt in bestehende Strukturen passen, fördern wir nicht wirklich Diversität – wir reproduzieren sie im bequemen Rahmen. Wir sagen: Ihr seid hier willkommen, solange ihr keinen Aufwand verursacht.
Was Diversity Recruiting wirklich bedeutet
Doch wer Diversität will, der*die muss sich trauen, diesen Rahmen zu verlassen. Und das muss auch im Recruiting abgebildet werden. Diversity Recruiting meint nicht einfach, „mehr Frauen“ oder „mehr Menschen mit Migrationsgeschichte“ einzustellen. Es bedeutet, den gesamten Recruiting-Prozess kritisch zu hinterfragen – von der Stellenausschreibung über das Auswahlverfahren bis zur Vertragsunterschrift.
Studien zeigen, dass Organisationen mit diversen Teams nachweislich innovativer, resilienter und erfolgreicher sind. Und dennoch bleiben die Fortschritte oft kosmetisch: eine bunte Kampagne hier, eine Gender-Gap-Analyse dort. Wirklich diverse Strukturen entstehen jedoch nur durch unbequeme, langfristige Veränderungen.
Für den Leitfaden „Crashkurs Diversity Recruiting“ von XING E-Recruiting haben wir uns eingehender damit beschäftigt, warum das so ist und wie Unternehmen es besser machen können. Er liefert einen umfassenden Überblick über Diversity als entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Dabei zählen fünf Schlüsselfaktoren:
Bewusstsein schaffen: Recruiting-Teams müssen sich ihrer eigenen Biases bewusst werden. Unconscious-Bias-Trainings können ein Einstieg sein, reichen aber allein nicht aus.
Inklusive Sprache nutzen: Viele Stellenanzeigen schrecken bereits im ersten Satz marginalisierte Gruppen ab. Gendergerechte und barrierearme Sprache wirkt hier Wunder.
Diversität messbar machen: Nur wer Zahlen erhebt, kann Fortschritte erkennen. Doch Achtung: Die Qualität der Daten zählt mehr als die Quantität.
Zugänge schaffen: Menschen, die nicht im „klassischen Bewerber:innenpool“ schwimmen, brauchen gezielte Ansprachen und niedrigschwellige Bewerbungswege.
Strukturen umbauen: Vielfältige Menschen einzustellen ist der Anfang. Die Strukturen müssen aber auch bereit sein, Vielfalt zu halten.
➡️ Eine vertiefte und praxisnahe Auseinandersetzung mit diesen Punkten findet sich im Leitfaden „Crashkurs Diversity Recruiting: Vorurteile im Recruiting erkennen und erfolgreich abbauen“ von XING E-Recruiting. Es bietet eine hilfreiche Grundlage für alle, die den Einstieg suchen – und für alle, die ihr Recruiting strategisch weiterentwickeln wollen.
Die Angst vor der „Quotenfrau“
Einer der Punkte, die im Whitepaper zwischen den Zeilen mitschwingen, wurde in vielen Debatten der letzten Jahren besonders deutlich: die Angst, es gäbe Frauen, die „nur“ aufgrund einer Quote eingestellt würden.
Der Satz fällt oft – unterschwellig oder offen – in Führungskreisen, die sich mit Genderquoten, paritätischen Listen oder gezielter Frauenförderung beschäftigen. „Ich will ja keine Frau einstellen, nur weil sie eine Frau ist. Was, wenn sie nicht gut genug ist?“ Dieser Gedanke offenbart mehr über bestehende Machtverhältnisse als über Frauenquote oder Eignung. Denn: Niemand fragt sich, ob ein Mann nur deshalb eingestellt wurde, weil er ein Mann ist - obwohl beispielsweise Lebenslauf-Experimente nahelegen, dass Männer bei gleicher Qualifikation häufig weiblichen Bewerberinnen vorgezogen werden. Und: Schlechte Entscheidungen bei männlichen Bewerbern werden individuell bewertet. Schlechte Entscheidungen bei Frauen gelten schnell als Beweis, dass „Förderung nicht funktioniert“.
Diese Sorge steht oft am Ende einer Kette unausgesprochener Vorurteile, angefangen bei einer leistungsfixierten Unternehmenskultur, die Anpassung belohnt – nicht Perspektivwechsel.
Diversity Recruiting bedeutet auch, sich dieser Angst zu stellen. Und sich zu fragen: Was genau befürchten wir eigentlich? Dass andere Arbeitsstile unsere eingespielten Prozesse irritieren? Dass Konflikte zunehmen? Dass wir selbst Macht abgeben müssen?
Wenn das so ist, dann ist genau das der Beweis, dass Diversity längst überfällig ist.

Employer Branding als Spiegel der Unternehmenskultur
Einer der zentralen Hebel, um diverse Talente zu gewinnen, ist ein glaubwürdiges Employer Branding. Doch auch hier gilt: Wer Vielfalt nur zeigt, aber nicht lebt, wird entlarvt.
Viele Unternehmen investieren in aufwändige Karriereseiten, auf denen Menschen mit Hijab, Rollstuhl oder Regenbogenflagge lächeln – doch intern wird nicht gegendert, rassistische Mikroaggressionen sind an der Tagesordnung, rollstuhlgerechte Arbeitsplätze nicht existent, und kritisches Feedback wird weggelächelt.
Gutes Employer Branding beginnt nicht bei der Außendarstellung, sondern bei der Innenehrlichkeit.
Drei Fragen, die sich Unternehmen stellen sollten:
Welche Menschen werden auf unserer Website sichtbar gemacht – und welche nicht?
Welche Geschichten erzählen wir? Geht es um Erfolge – oder auch um Herausforderungen?
Gibt es eine erkennbare Haltung zu Themen wie Diskriminierung, Gendergerechtigkeit oder Mental Health – oder ist alles „neutral“ gehalten?
Diversität ist kein Marketingtrend. Wenn sie nicht im Alltag erlebbar ist, kann die schönste Employer-Branding-Kampagne ins Gegenteil kippen: Talente werden angelockt und verlassen das Unternehmen nach sechs Monaten – enttäuscht, desillusioniert, frustriert.
Was braucht es wirklich? – Fünf Gedanken für die Praxis
Vertrauen in Kompetenz: Wer divers einstellt, sollte auch bereit sein, Andersartigkeit zu akzeptieren. Nicht jede Managerin muss “männlich” führen. Ein Mensch mit Behinderung nutzt möglicherweise ungewohnte Strategien. Das macht sie nicht weniger kompetent. Vertrauen heißt nicht kontrollieren, sondern begleiten.
Fehlertoleranz erhöhen: Auch bei geförderten Gruppen darf es „schlechte Entscheidungen“ geben – ohne dass die gesamte Maßnahme in Frage gestellt wird. Wer Diversität will, muss sie aushalten können.
Mentale Modelle entlernen: „Sie ist zu emotional“, „Er ist zu weich“, „Die passt nicht zur Kultur“ – viele Ablehnungen beruhen auf Stereotypen. Ein ehrlicher Check der eigenen Denkmuster lohnt sich.
Wertschätzung statt Tokenism: Vielfalt ist kein Selbstzweck. Sie bringt echten Mehrwert – wenn Menschen nicht nur eingeladen, sondern auch gehört und in Entscheidungen eingebunden werden.
Langfristigkeit einplanen: Vielfalt braucht Zeit. Ein diverses Team ist kein Ziel, sondern ein Prozess. Recruiting ist ein Hebel – aber eben nur einer von vielen.
Fazit: Haltung ist gut, Struktur ist besser
Diversity ist unbequem. Sie stellt Bestehendes in Frage, fordert neue Perspektiven, verlangt nach Konfliktfähigkeit und Offenheit. Hinzu kommt durch den politischen Backlash auch noch die Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen - das bedarf viel Kommunikationsarbeit.
Wer es aber wirklich ernst meint, findet im Recruiting einen kraftvollen Hebel. Nicht nur, um diverse Menschen einzustellen – sondern auch, um die eigene Organisation so zu transformieren, dass diese Menschen bleiben wollen.
Interesse an einer tiefergehenden Begleitung oder einem Diversity Check für euer Employer Branding? Das IN-VISIBLE Team unterstützt euch gern dabei, Vielfalt strukturell und strategisch zu verankern – mit Workshops, Audits und ganz viel Know-how.