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You get a job and the rest is drag: Was die Arbeitswelt von Drag über Normen lernen kann

  • Autorenbild: Luka Özyürek
    Luka Özyürek
  • 18. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Als ich 2022 ganz neu bei IN-VISIBLE war, interviewte mich unsere Geschäftsführerin Rea für diesen Blog. Damals erzählte ich von meinem Hobby als Drag-Künstler*in und wir waren uns gleich einig: So manche*r CEO könnte von einem Dragworkshop mindestens genauso viel profitieren wie von einer Unconscious Bias-Schulung. Das klingt vielleicht erstmal seltsam. Aber: Drag lehrt uns Perspektivwechsel, Mut und das Hinterfragen von Normen - Fähigkeiten, die nicht nur für Führungskräfte essentiell sind.


Moment, was ist eigentlich Drag?


Gehen wir einen Schritt zurück: Was ist Drag überhaupt? Drag Queens kennen viele inzwischen aus den Medien und verstehen darunter meistens Männer, die auf übertriebene Weise Frauen darstellen - mit riesigen Perücken, bunter Schminke und ganz viel Glitzer. Das ist eine Art von Drag, doch diese Kunstform geht noch viel weiter. Denn Drag heißt erstmal nur, bewusst mit Geschlechterstereotypen zu spielen, und von denen gibt es ja eine ganze Menge. 


Es gibt weibliche Drag Queens. Es gibt Drag Kings, die sich von männlichen Klischees inspirieren lassen und z.B. Boybands oder altmodische Gentlemen darstellen. Es gibt Drag Quings, die weibliche und männliche Elemente bunt vermischen. Es gibt Drag-Künstler*innen, die ganz mit unseren Vorstellungen von Geschlecht brechen und als Aliens oder Fabelwesen auftreten. Was sie alle gemeinsam haben: Sie zeigen, wie viel von dem, was wir mit Geschlecht verbinden, eigentlich eine Performance ist. Kleidung, Gestik, Verhaltensweisen, selbst die Wahl eines Getränks kann vermeintlich darauf hindeuten, welchem Geschlecht sich jemand zugehörig fühlt - das ist im Alltag so tief verankert, dass man selten hinterfragt, was diese Dinge eigentlich wirklich mit Geschlecht zu tun haben. Drag macht diese unsichtbaren Normen sichtbar und fragt: Machen sie Sinn oder sind sie, wenn man genauer hinschaut, nicht eigentlich ganz schön albern?


Mit Drag Normen auch in der Arbeitswelt hinterfragen


Diese Frage lässt sich weit über Geschlecht hinaus ausdehnen. Wie sieht eigentlich ein*e CEO aus? Was unterscheidet die HR-Managerin optisch von der Architektin? Oder den Krankenpfleger von der Krankenpflegerin? Und viel wichtiger: Warum? Was an manchen Stellen praktischen Erwägungen geschuldet ist, wird spätestens in Bürojobs oft zum Selbstläufer. Man zwängt sich in die unbequemen Schuhe, die einengende Krawatte, wie sich der*die Drag-Künstler*in in den Binder oder die Stöckel zwängt, weil es “halt dazu gehört”. Nicht umsonst spricht man hier auch von “corporate drag”, diesem Look, der sagt: “Schaut her, ich bin professionell und passe in ein erfolgreiches Unternehmen.” Doch während diese Darstellung im Drag der ganze Sinn der Sache ist, läuft sie im Berufsleben oft nebenbei und unhinterfragt. 


Stellt man sich das Büro aber als Dragshow vor, fängt man an zu fragen: Was steckt eigentlich hinter meiner Kleidung, meinen Gesten, meiner Ausdrucksweise, oder denen meiner Kolleg*innen? Was sagen sie aus, oder eben auch nicht? Wer kann diese Normen der Arbeitswelt erfüllen, wer nicht? Einmal erkannt, kann man bewusster mit diesen Normen umgehen und entscheiden, welche Rolle man spielen möchte und wo ggf. die Selbstbestimmung durch klare Erwartungen beschränkt ist.


Lern von Drag: Stell dir vor, du sollst deinen Beruf in einer Dragshow darstellen. Wie zeigst du dem Publikum, um welchen Beruf es sich handelt? Woran erkennt man, dass du in deinem Unternehmen arbeitest? Was sind wichtige Kleidungsstücke, Accessoires, Gesten? Dann überlege: Was davon ist tatsächlich notwendig, um deine Arbeit zu machen? Was ist nur Beiwerk und woher kommt das? Du kannst diese Übung auch im Team machen: Nehmt euch zunächst Zeit, diese Fragen individuell zu beantworten und tauscht euch dann dazu aus. So könnt ihr unbewusste Vorannahmen und Normen aufdecken, die sich in eurer Kultur eingeschlichen haben, und bewusst entscheiden, ob sie euch weiterbringen.


Ein kleiner schwarzer Hund im Einhornkostüm bricht mit den Normen der Arbeitswelt.
Drag hat viele Gesichter. Welche Normen der Arbeitswelt würdest du gerne durchbrechen?

Was, wenn wir am Arbeitsplatz wir selbst sein könnten?


Nun ist es eine Sache, Normen zu erkennen - aus dieser Erkenntnis auch Konsequenzen zu ziehen eine andere. Denn das braucht Mut und Selbstbewusstsein, besonders dann, wenn man die erste Person im Team ist, die eingefahrene Strukturen hinterfragt. Auch hier können Drag-Künstler*innen Vorbild sein. Geschlechterrollen sind im Alltag oft bitterer Ernst und sie zu durchbrechen, nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern in aller Öffentlichkeit, kann anstrengend und schlimmstenfalls sogar gefährlich sein. Und doch tun wir es und zeigen, wie bunt die Welt sein könnte, wenn wir alle entspannter wären, statt verbissen darauf zu achten, was “weiblich” oder “männlich” ist. 


Zugegebenermaßen, das braucht Übung, aber es macht auch eine Menge Spaß. Immer, wenn ich einen Drag-Workshop gebe, gibt es ein paar Teilnehmende, die anfangs ganz schüchtern sind und sich nicht so richtig ans Ausprobieren trauen. Zu sehen, wie sie langsam mutiger werden, mit jedem Pinselschwung und Accessoire mehr aus sich herauskommen und Eigenschaften finden, von denen sie noch gar nicht wussten, dass sie sie haben, ist immer wieder großartig. Wie toll könnte es sein, wenn wir auch im Büro so experimentieren könnten, was sich für uns gut anfühlt? Das ist nicht unmöglich, es muss nur jemand den Anfang machen.


Lern von Drag: Drag stellt nicht nur Stereotype dar, sondern auch Idealvorstellungen. Für viele Drag-Künstler*innen ist ihre Drag-Persona eine Möglichkeit, Seiten von sich zu zeigen, die im Alltag keinen Platz haben. Wie würde deine Drag-Persona aussehen? Was sind Kleidungsstücke, die du schon immer mal tragen, oder Dinge, die du schon immer mal sagen wolltest? Such dir eine Sache raus und trau dich - wenn jemand fragt, es ist Drag.


Geschäftsführer im Stöckelschuh: Normen spielerisch hinterfragen


Nicht zuletzt schult diese spielerische Herangehensweise an Normen auch etwas, das im Arbeitsleben unschätzbaren Wert hat, nämlich die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Wir sehen das in unserer Beratungsarbeit regelmäßig: Führungskräfte verstehen nicht, wie ihre Teammitglieder sie wahrnehmen, Angestellte erkennen die menschlichen Sorgen ihrer Vorgesetzten nicht an, die Produktion fühlt sich von HR nicht gesehen, und so weiter. Es entstehen vermeidbare Konflikte, weil es nicht gelingt, sich in die Bedürfnisse anderer Menschen hineinzuversetzen.


Und das ist eng mit starren Normen verknüpft: Wir haben ein Bild davon, wie die Geschäftsführung, HR, Produktion, Kreative zu sein haben, ohne uns vor Augen zu rufen, was das tatsächlich heißt. Genauso ist es mit Drag: Wer sich zum ersten Mal an einem vollen Make-up versucht oder mit hohen Absätzen läuft, hat danach eine ganz andere Wertschätzung für Menschen, von denen das täglich erwartet wird. Umgekehrt ist vielen Menschen gar nicht klar, was es bedeutet, “Männlichkeit” darzustellen - das auszuprobieren und festzustellen, wie viel Arbeit es ist, kann sehr erhellend sein. Drag schärft also nicht nur das Verständnis für die eigene Identität, sondern verdeutlicht auch, was wir über andere Menschen nicht wissen. Wer es schafft, das auf verschiedene Situationen zu übertragen, wird empathischer, neugieriger und damit auf lange Sicht auch inklusiver. 


Lern von Drag: Drag-Performance beruht viel auf Beobachtung und Imitation. Beobachte deine Kolleg*innen und finde etwas, das jemand anders macht als du - das Timing der Kaffepause, die Notizen, was auch immer. Versuche einen Tag lang, diese Sache genauso zu machen. Wie fühlt sich das an? Alternativ könnt ihr euch auch im Team gegenseitig Eigenschaften zum imitieren zuteilen.


Lasst uns mehr Spaß haben!


Fazit: Ob auf der Bühne oder im Büro, ein bisschen Theater spielen wir immer. Das ist nicht schlimm, solange sich alle damit wohlfühlen - aber oft ist gar nicht klar, dass etwas Performance ist und nicht ein unabänderliches Naturgesetz. Also trau dich, wie Drag-Künstler*innen zu denken und spielerisch zu hinterfragen, was dich, deinen Beruf und deine Organisation ausmacht, und ob die etablierte Performance für euch wirklich funktioniert. 



Was können wir sonst noch von Drag lernen? Das wollen wir am 24.06. herausfinden und laden dich in Kooperation mit Grace herzlich ein zu unserem Networking- und Panel-Event “What can aspiring female founders learn from drag?” ein. Weitere Informationen findest du hier. Der Eintritt ist frei, aber Plätze sind begrenzt.


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