Mikroaggressionen im MINT-Bereich: Wie subtile Bemerkungen das Selbstbild von Frauen beeinflussen
- Gastautor*in
- 27. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Letzte Woche haben wir darüber geschrieben, was Mikroaggressionen sind und wie jede*r ihnen entgegenwirken kann. Heute zeigt unsere Gastautorin, wie Mikroaggressionen ganz konkret die Berufschancen von Frauen negativ beeinflussen können.
„Du bist aber gut in Mathe für eine Frau.“ – „Oh, du studierst Maschinenbau? Das
hätte ich gar nicht gedacht.“
Sätze wie diese klingen auf den ersten Blick harmlos, fast wie ein Kompliment. Ich habe mich selbst schon dabei ertappt, wie ich mich im ersten Moment darüber gefreut habe. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Hinter solchen Aussagen verbirgt sich ein altes, hartnäckiges Rollenbild und eine subtile Form von Abwertung. Solche Aussagen sind Beispiele für sogenannte Mikroaggressionen.
Doch was sind Mikroaggressionen? Es sind scheinbar beiläufige Bemerkungen oder Handlungen, die unbewusst diskriminierend wirken. Sie treffen häufig Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, etwa aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihrer sexuellen Orientierung [Car]. Besonders im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) sind für viele Frauen solche Erfahrungen keine Seltenheit; sie erleben diese Art der Abwertung bereits in der Schule und oft ein Leben lang.
Wenn “harmlose” Kommentare Schaden anrichten
Einzeln betrachtet mögen diese "kleinen" Bemerkungen harmlos erscheinen. Doch wirken Mikroaggressionen kumulativ und genau darin liegt ihre Gefahr. Wer immer wieder mit abwertenden, geschlechtsbezogenen Kommentaren konfrontiert wird, sei es durch Mitschüler*innen, Lehrkräfte oder im Studium, verliert nach und nach das Gefühl von Zugehörigkeit. Diese wiederholte Erfahrung kann dazu führen, dass man zunehmend an der eigenen Kompetenz zweifelt, sei es im Studium oder später im Beruf [Mic23].
Schon früh wird Mädchen das Bild vermittelt, dass Männer in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern rational und talentiert sind, während Mädchen als emotional gelten und ihnen eine geringere Begabung in diesen Bereichen zugeschrieben wird [Mül+18]. Wenn sie dann von Lehrerinnen, Eltern oder anderen Bezugspersonen hören, dass es „normal“ sei, als Mädchen schlecht in Mathe zu sein, verstärkt sich diese Vorstellung, dass bestimmte Fähigkeiten nicht zu ihnen gehören [Mül+18]. Das schmälert nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern auch das Vertrauen in ihr eigenes Können, lange bevor sie überhaupt die Chance haben, ihr Potenzial zu entfalten [Lim].
Mikroaggressionen vermitteln: Du gehörst hier nicht hin
Diese sozialen Normen können Frauen später bei der Studienwahl unbewusst davon abhalten, sich für ein MINT-Fach zu entscheiden [Mül+18]. Die Frauenquote in diesen Bereichen lag im Jahr 2022 bei nur etwa 35%, wie in Abbildung 1 zu sehen ist. Diese Zahl spiegelt ein strukturelles Problem wider. Denn Frauen mangelt es nicht an Fähigkeit oder Interesse, sondern vielmehr an Unterstützung, Vorbildern und einem ermutigenden Umfeld [Jea]. Wenn jungen Frauen über Jahre hinweg vermittelt wird, dass Mathe und Technik „nicht ihr Ding“ seien, verankert sich diese Botschaft tief im Selbstbild. Was zur Folge hat: Viele Frauen trauen sich trotz Interesse oder Talent den Weg in ein MINT-Studium nicht zu oder brechen es frühzeitig ab [Jea]. Mikroaggressionen im MINT-Bereich, wie die in der Einleitung beschriebenen, verstärken diesen Effekt zusätzlich, sie sind wie kleine Nadelstiche, die immer wieder ins gleiche Bild stechen: Du gehörst hier nicht hin. Diese unterschwellige Ausgrenzung summiert sich mit der Zeit und es baut sich eine Barriere auf, was den Einstieg für Frauen in ein Studium erschwert.

Betroffene werden emotional und körperlich belastet
Doch selbst wer diesen Schritt wagt, ist mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. Ein Studium in einem MINT-Fach ist ohnehin mit hohen Anforderungen verbunden, fachlich, organisatorisch und mental. Wenn zusätzlich Mikroaggressionen den Lern- und Arbeitsort zu keinem sicheren Raum machen, wird es für betroffene Frauen noch schwieriger, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, das Lernen und die persönliche Weiterentwicklung. Statt sich fachlich entfalten zu können, müssen sie ständig mit subtilen Zweifeln an ihrer Kompetenz umgehen und das kostet Kraft, die woanders besser investiert wäre [deu]. Der Umgang mit Mikroaggressionen ist emotional anstrengend. Betroffene müssen ständig wachsam sein, subtile Abwertungen erkennen und diese innerlich verarbeiten. Oftmals sind sie unsicher, ob eine Bemerkung tatsächlich diskriminierend gemeint war oder ob sie überreagieren. Diese ständige Auseinandersetzung mit potenzieller oder tatsächlicher Ausgrenzung führt zu einem chronischen Stresszustand [Lim]. Dieser anhaltende Stress kann sich in verschiedenen psychischen und physischen Symptomen äußern, wie beispielsweise: Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen oder körperliche Erschöpfung [Lim],[deu].
Mikroaggressionen im MINT-Bereich effektiv begegnen
Um diesen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken, bedarf es gezielter Maßnahmen, die Mädchen und junge Frauen ermutigen, ihren Interessen im MINT-Bereich selbstbewusst und frei von gesellschaftlichen Erwartungen nachzugehen. Verschiedene Bildungseinrichtungen initiieren hierzu wichtige Kampagnen, wie beispielsweise den bundesweiten Girls’Day [Jea]. Solche Programme ermöglichen es Mädchen und jungen Frauen, in traditionell von Männern dominierten Berufsfeldern praktische Erfahrungen zu sammeln und somit mögliche Berührungsängste abzubauen.
Des Weiteren ist es von großer Bedeutung, Lehrkräfte durch gezielte Fortbildungen für die Thematik zu sensibilisieren, um Abgrenzungen und stereotype Zuschreibungen im schulischen Umfeld zu minimieren [Jea]. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind positive Vorbilder. Durch gezielte Medienarbeit und die Repräsentation vielfältiger Rollenbilder wird es Mädchen und jungen Frauen erleichtert, sich zu identifizieren und eigene Potenziale zu erkennen [Mül+18].
Nicht zuletzt leisten auch Stipendienprogramme, die sich gezielt an Frauen in MINT-Studiengängen richten, einen wertvollen Beitrag, indem sie finanzielle Unterstützung bieten und gleichzeitig ein ermutigendes Signal für die Wahl dieser zukunftsträchtigen Studienfächer senden. Solche Initiativen können Mikroaggressionen zwar nicht vollständig verhindern, aber sie stärken das Selbstbewusstsein, schaffen unterstützende Netzwerke und bieten konkrete Perspektiven.
Kleine Aggression, große Wirkung
Mikroaggressionen mögen auf den ersten Blick klein erscheinen, doch ihre Wirkung ist es nicht. Sätze wie „Du bist aber gut für eine Frau“ habe ich schon öfter gehört und lange nicht hinterfragt. Heute weiß ich, dass solche Aussagen nicht einfach nett gemeint sind, sondern Teil eines größeren Problems. Sie spiegeln Erwartungen und Zuschreibungen wider, die viele Mädchen und Frauen im MINT-Bereich begleiten. Oft, ohne dass es bewusst geschieht.
Dieser Text wurde von Maylis Schneider im Rahmen des Seminars „Diversity im Lern- und Arbeitsumfeld“ verfasst, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE, am Hasso-Plattner-Institut leitet.
Literatur
[Bun] Statisches Bundesamt. Mehr als ein Drittel der Studienanfängerinnen und -
anfänger im MINT-Bereich sind Frauen. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/01/PD24_N003_213.html
[Car] CareerTeam. Der lautlose Killer – Mikroaggressionen am Arbeitsplatz und wie sie verhindert werden. https://www.careerteam.de/de-insights/der-lautlose-killer-mikroaggressionen-am-arbeitsplatz-und-wie-sie-verhindert-werden
[deu] deutschlandfunkkultur. Wie Tausende kleine Mückenstiche. https://www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-macht-den-koerper-krank-wie-tausende-kleine-100.html
[Jea] Yves Jeanrenaud. MINT. Warum nicht?
[Lim] Limes Schlossklinik. Wie Mikroaggressionen das psychische Wohlbefinden beeinflussen. https://www.limes-schlosskliniken.de/blog/mikroaggressionen/#psychologie
[Mic23] Patricia Michaelis. Beratungs- und Therapieerfahrungen, Mikroaggression - Zusammenhänge mit Lebenszufriedenheit und sexueller Zufriedenheit. de. Bachelor Thesis. Psychologie (B.Sc.), 2023, II, 45, XVII Seiten
[Mül+18] Ria Müller, Michael Kreß-Ludwig, Franziska Mohaupt und Astrid Gorsky. Warum (nicht) MINT? Was beeinflusst die Ausbildungs-und Berufswahlentscheidung junger Menschen (2018)